Mehr Faulheit wagen!
Fleißig sind die Guten, faul die Bösen. Das haben wir so gelernt. Doch daran ist etwas faul: Es behindert den Fortschritt.
Text: Wolf Lotter
Illustration: Jan Robert Dünnweller
BRAND EINS – Wirtschaftsmagazin 08/15 DER GANZE ARTIKEL
Auszug:
1. Aus dem Leben eines Taugenichts
Wer wissen will, was ist, muss die Welt manchmal auf den Kopf stellen. Recht weitläufig gedacht, führt dieser Perspektivwechsel nach Australien und Ozeanien, unserem Antipoden, dem geografischen Gegenüber. Um etwas zu lernen, muss man einmal ganz durch. Aber es lohnt sich. Wir treffen dort auf Lebewesen und Verhaltensweisen, die uns viel über unsere Herkunft und Zukunft verraten. Vielleicht sogar etwas über den Sinn des Lebens.
Durch reine Beobachtung des Alltags von Phascolarctos cinereus erführen wir eine ganze Menge darüber, was wirklich wichtig ist, allerdings auch, dass das so ziemlich genau das Gegenteil von dem ist, was wir dafür halten. Der aschgraue Beutelbär würde sich bei dieser Gelegenheit nicht bloß als baumbewohnender Beutelsäuger von einem anderen Kontinent erweisen, sondern geradezu wie nicht von dieser Welt erscheinen.
Denn der Koalabär, neben dem Känguruh das Symbol Australiens, ist ein fauler Kerl. Der knuddelige Australier gilt als das trägste Säugetier der Welt, schläft täglich um die 20 Stunden und hängt den Rest des Tages, artgeschützt und langsam kauend, auf Ästen von Eukalyptusbäumen herum. Dagegen wirken selbst Pandabären, im Ranking der Schlappen stets für einen Podestplatz gut, dynamisch und zackig. Existenzielle Bedrohungen rauben dem tiefenentspannten Tier nicht die Ruhe. Es brennt? Mir doch egal. Damit die Koalas nicht vom flammenden Inferno erfasst werden, lässt sie der Staat von Infrarot-Drohnen aufspüren – Ranger evakuieren die Schnarchsäcke dann umgehend.
Fernfahrer, die mit ihren Lastwagenkonvois auf den schnurgeraden Pisten des Outbacks fahren, erzählen von Koalas, die schier regungslos am Straßenrand sitzen. Dort finden sie sich Tage später in gleicher Pose wieder. Sie sind nicht tot. Und es liegt auch nicht am Verkehr. Manchmal kommt dort stundenlang, ja tagelang kein Auto vorbei. Der Koala will einfach nicht auf die andere Straßenseite. Was soll er dort auch?
Der tut nix. Der will noch nicht mal spielen.
2. Faulheit an und für sich
Faul und doof, das gehört in unserer Kultur zusammen. Wer faul ist, der hat zudem auch noch einen schlechten Charakter. Denn Fleiß ist eine Tugend – und den Tüchtigen gehört die Welt.
So gesehen hat es etwas Anarchisches, dass es in den Kinderzimmern wohlhabender Länder, also dort, wo die Leistungsträger von morgen wohnen, von Koalas nur so wimmelt. Zwar sind die Bären nur aus Stoff und gucken gemütlich, aber in einer Welt, in der es ohne Fleiß keinen Preis gibt und in der andauernder Aktivismus zum guten Ton gehört, kann man derlei eigentlich nicht dulden. Ist das nicht schon Sabotage an der Leistungsgesellschaft?
Natürlich sind Koalas nicht faul. Tiere können nicht faul sein, sagen wir Menschen. Nur Menschen können faul sein. So sind eben die Regeln. „Die Faulheit (abmildernd auch Trägheit genannt) ist der mangelnde Wille eines Menschen, zu arbeiten oder sich anzustrengen“, heißt es bei Wikipedia dazu. Wenn Katzen in der Sonne dösen oder Koalas matt im Eukalyptusbaum hängen, dann mögen wir sie faul nennen, aber eigentlich schwingt hier immer auch ein wenig Anerkennung mit: „Guck mal, der faule Bär! Der macht’s richtig!“
Ja, guck mal! Warum machen wir es eigentlich falsch? Und warum freuen sich eigentlich alle immer auf Urlaub, Feiertag und Wochenende? Natürlich muss niemand auf der Suche nach einer Antwort auf diese sehr einfache Frage ein Loch durch die Erde bohren. Etwas Selbsterkenntnis tut’s völlig.
Wir, die emsigen Ameisen einer übermächtigen Arbeitsgesellschaft, haben eine panische Angst davor, an und für sich faul zu sein, denn das führt unmittelbar zu der Frage, was man mit sich selbst anfangen kann. Man muss das so umständlich sagen – an und für sich faul –, damit es keine Missverständnisse gibt, denn die wahre Faulheit ist so selten geworden, dass man sie heute kaum noch zu Gesicht bekommt. Die langsam abklingende Industriegesellschaft war die Ära der Fleißigen – das ist der Wortsinn des lateinischen „industria“. Nach dieser umfassenden Gehirnwäsche in Sachen Eifer gibt es heute im Grunde nur noch zwei Sorten Menschen: die, die sich in ihrem Aktionismus zu Tode arbeiten, und die, die ihre heimliche Leidenschaft aufwendig verschleiern, was auch anstrengend ist…“
Der ganze Artikel: BRAND EINS – Wirtschaftsmagazin 08/15